Ob Sex, Suizid oder Schmerzen bei der Geburt: Es gibt Themen, über die viele Menschen nicht gerne sprechen. Es sind Tabus. Wie entstehen sie? Welche Bedeutung haben sie für eine Gesellschaft? Und wann bröckeln sie?
Geburt als etwas Negatives, als etwas Schmerzhaftes zum Thema machen. Den Suizid-Fall in der eigenen Familie gegenüber anderen ansprechen. Offen über Sex reden. Das sind nur drei der Themen, über die die Mehrheit der Menschen nicht spricht, nichts hören oder sehen möchte. Oder knapp in einem Wort: Das sind Tabus.
Tabus – stillschweigend praktizierte Verhaltensweisen: Solche No Gos werden entweder umschifft oder sie werden bewusst oder unbewusst umgesetzt, öffentlich wie innerfamiliär – jede Gesellschaft der Welt hat ihre eigenen Tabus.
Der Begriff Tabu und seine Bedeutung für Deutschland
Das Wort „Tabu“ ist ein Import. Es kommt ursprünglich aus Polynesien, einer Inselgruppe in der Nähe von Neuseeland, und bezeichnet dort eine heilige Situation, etwas, das unberührbar sein soll und das deshalb auch mit „heilig“ oder „unberührbar“ übersetzt wird.
Welche Bedeutung haben Tabus für uns heute in Deutschland? Wie gehen wir damit um? Entwickeln sich Tabus zurück? Entstehen immer wieder neue? Tabus verraten viel über eine gesellschaftliche Verfassung. Aus ihnen heraus entstehen wichtige Fragen, die für eine Gesellschaft produktiv werden können. Vor allem auch, weil es trotz der Auflösung einiger Tabus noch immer viele Tabus gibt. Heute können unverheiratete Paare zwar ohne Probleme ein gemeinsames Hotelzimmer nehmen. Das war in den 1960ern noch ein strenges Tabu. Allerdings dürfen sie heute im Hotelzimmer nicht mehr rauchen. Das ist jetzt tabu.
Sex: Vom großen zum kleinen Tabu
Über Sex zu reden, scheint heute fast normal. Über viele Jahrhunderte war das Thema allerdings ein sehr großes Tabu. Bis in die 1970er Jahre hinein galt vieles, was sich im Schlafzimmer abspielte, sogar als Sünde. Ein Tabu, das langsam aufgebrochen wurde. Löste im Jahr 1951 der kurze Nacktauftritt von Hildegard Knef im Willi-Forst-Film „Die Sünderin“ noch beinahe eine Staatskrise aus, so sprengten die 68er, die Flower Power Generation und die Frauenbewegung die prüden Vorstellungen der Gesellschaft von Nacktheit, Körper und Sex; Abtreibung wurde aus der Tabuzone geholt.
Den Höhepunkt des fortschreitenden Tabubruchs sieht der Sexualwissenschaftler Norbert Elb aktuell in der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz von Homosexualität und in der 2017 vom Bundestag beschlossenen Möglichkeit zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Für den Sexualwissenschaftler zeigt das, dass sich Tabus auflösen können, weil sich eine Gesellschaft weiterentwickelt.
Gleichzeitig sieht er aber auch, dass es rund um das Thema Sex immer noch einige Tabus gibt: „Man kann nicht sagen, dass es keine Tabus gibt. Ein anderes Tabu war zum Beispiel lange Zeit der Oralverkehr, in Teilen der USA ist es heute noch ein Tabu. Und der Analverkehr unter Heterosexuellen ist auch sicherlich ein weiteres Tabu.“ Sex – eigentlich etwas ganz Normales, aber doch noch immer mit Tabus behaftet. Glaubt man den Sozialwissenschaftlern, so ist es allerdings nur eine Frage der Zeit, bis die letzten Sex-Tabus fallen.
Tod: Der „Fall der Fälle“
Der größte Tabu-Bereich in Deutschland ist wohl immer noch der Tod und das Sterben. Nichts schieben die Menschen hierzulande lieber beiseite als die Endlichkeit des Lebens. Und so wird oft nichts geregelt, was im Fall der Fälle passieren soll. „Fall der Fälle“ – schon an dieser Umschreibung wird das Tabu deutlich. Angehörige, die einen Tod verkraften müssen, werden von einem normalen Leben in einen völligen Ausnahmezustand geworfen, vor allem wenn es sich um einen gewaltsamen Tod handelt.
„Man geht und nimmt die Außenumgebung wie in so einer Käseglocke wahr“, sagt Evangelos Siafakas. „Man funktioniert und denkt: ‚Oh verdammt, das Herz pocht ja immer noch. Ich habe Hunger, ich habe Durst. Man sieht, das ganze Leben geht um einen herum ganz normal weiter. Nichts hat sich da verändert. Nur meine kleine Welt hat sich verändert.“ Die Freundin von Evangelos Siafakas hat sich vor acht Jahren erhängt. Gemeinsam mit dem damals achtjährigen Sohn fand er sie morgens nach dem Aufstehen im Wohnzimmer.
Besonders lange quälte ihn die Frage, ob er den Selbstmord hätte verhindern können. „Der erste Gedanke war: Wieso habe ich da nichts gemerkt? Am Abend vorher hat sie auf dem Balkon noch Verabredungen gemacht zum Babysitten, damit wir auf eine Party gehen können“, erzählt er. Er sei früher ins Bett gegangen, habe noch gehört, wie sie sich die Hände gewaschen habe. Dann sei er nachts aufgewacht. „Das Licht war noch im Flur an. Dann hab ich geguckt. Ich habe nicht weitergeguckt. Ich habe nur das Licht ausgemacht …“
Noch immer wohnen Evangelos Siafakas und sein Sohn in der Wohnung von damals. Beide haben lernen müssen, mit der Situation zu leben. Das ist besonders schwer in einer Gesellschaft, in der über Suizid nicht offen geredet wird. Gegen dieses Tabu stemmen sich Evangelos Siafakas und sein Sohn. Sie gehen bewusst offen mit dem Suizid der Mutter und Partnerin um. Sie sprechen darüber. Und konzentrieren sich auf das Wesentliche in ihrem Leben: „Jetzt geben wir das Geld aus. Wir werden das nicht behalten, damit ich irgendwann mal genug Geld behalte. Wir müssen jetzt leben. Das hat es überwiegend bei mir ausgelöst.“
Ungeschriebene Gesetze des modernen Zusammenlebens
Tabus gehören zu den ungeschriebenen Gesetzen des modernen Zusammenlebens – kollektiv verinnerlicht und aus dem Unterbewusstsein heraus wirkend. Und damit haben sie eine wesentliche Bedeutung für unsere Gesellschaft, sagt Professor Alexander Ebner.“Für uns in der Moderne haben Tabus sicherlich eine Funktion, bestimmte, nicht wünschenswerte gesellschaftliche Handlungen zu unterbinden.“ Schon Kinder bekommen den Satz gesagt: ‚Das ist tabu!‘ Das sagen wir und meinen damit: Darüber reden wir nicht. Das macht man so nicht. Das geht so nicht. Oft dient das, was tabu ist, dem Schutz einer großen Gruppe, ja meistens sogar dem Zusammenhalt einer ganzen Gesellschaft.
Menschen, die aus anderen Kulturen nach Deutschland kommen, spüren das. Sie können es aber oft nicht nachvollziehen, weil sie den Umgang mit manchen Themen aus ihrer Kultur ganz anders kennen. Moustafa Selim kommt aus Ägypten und lebt seit 2005 in Deutschland. Er hat in Deutschland seine Doktorarbeit geschrieben und hält hier immer wieder Vorträge über die arabische Kultur. Für seine Vermittlungsanstrengungen hat er im vergangenen Jahr den hessischen Integrationspreis bekommen.
Missverständnisse zwischen unterschiedlichen Kulturen
Selim sagt, immer wieder gehe es in seinen Vorträgen auch um Tabus – zum Beispiel Tabus aus seinem Heimatland Ägypten. „Wenn jemand sitzt und die Beine überschlägt und die Fußsohle in Richtung der Person zeigt, ist das eine Beleidigung. Deswegen darf man das nicht machen.“ Moustafa Selim ist Integrationsbeauftragter der Hochschule Geisenheim und Arabisch-Dolmetscher für Flüchtlinge. Dabei hat er viele Situationen erlebt, in denen es zu Missverständnissen kam: „Einmal wollte ein Flüchtlingshelfer ein Bild machen von einer Flüchtlingsfrau, mit einer Hand auf ihrer Schulter. Das war tabu für die Frau, die hat das falsch verstanden. In Ägypten macht man das nicht, auch wenn man die Frau 20 Jahre kennt.“ Denn in vielen Kulturen ist es tabu, den anderen zu berühren, sagt Selim. Bei uns in Deutschland sei man da freier.
Wenn Selim über Tabus spricht, unterscheidet er im Allgemeinen zwischen kulturellen, religiösen und staatlich auferlegten Tabus. Jeder solle möglichst frei leben können, dennoch sei es gut, die jeweiligen Verhaltensformen eines Landes, eines Kulturkreises zu kennen und zu achten. „Ich versuche, Beine übereinander schlagen zu vermeiden, weil wenn ich das vergesse, dann vergesse ich das später auch in Ägypten oder gegenüber Arabern in Deutschland. Religiöse Tabus behalte ich auch. Ich trinke keinen Wein, ich esse kein Schweinefleisch.“
Tabus wirken wie Verbote. Mit seinen Vorträgen über die arabische Kultur will Selim zum interkulturellen Verständnis zwischen Deutschen und Zugezogenen beitragen. Er versteht sich als Vermittler zwischen den Kulturen. „Ich wünsche mir, dass Leute, die kommen, sich über Deutschland informieren und sich anpassen. Aber es gibt Grenzen. Natürlich gibt es Grenzen. Ich bin Muslim und hab auch meine Grenzen. Wünsche mir auch von deutscher Seite, dass sie die arabische Kultur besser verstehen und mehr darüber erfahren.“
Taburäume werden enger
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Tabus verändert, einige sind verschwunden: Frauen gehören zur Truppe der Bundeswehr. Männer nehmen ganz selbstverständlich Elternzeit. Unverheiratete Paare können jederzeit ein Hotelzimmer mieten. Für Abtreibung wurde ein gesetzlicher Rahmen geschaffen. Alexander Ebner, Frankfurter Soziologe, sieht darin den Trend eines grundsätzlichen Wertewandels. Es gebe „gesellschaftliche Gruppen, die hinterfragen, kritisieren, Tabugrenzen durchbrechen und dabei sicherlich Sanktionen in Kauf nehmen. Das hat dann mit einem grundsätzlichen Wertewandel zu tun. In der Soziologie spricht man von der Entzauberung der Welt. Tabus werden aufgebrochen, rationalisiert. Insofern werden die Taburäume dann auch immer enger.“
Die Frauenbewegung hat Tabus gebrochen, die 68er–Generation war in dieser Hinsicht insgesamt eine sehr aktive Generation. Und 50 Jahre später hat die #MeToo-Debatte sexuell übergriffiges Verhalten aus der Tabugrauzone ins Licht der Öffentlichkeit geholt. Der gewalttätige sexuelle Zugriff auf Frauen wie Männer, die in einer Abhängigkeitsstellung sind, dürfte in Zukunft nicht mehr so leichtfertig passieren, weil er jetzt eben tabu ist. Ein neues Tabu. Abgesehen davon wird die deutsche Gesellschaft aber immer tabufreier. Es werde mehr gesprochen, sagt Alexander Eber: „Es wird ausdiskutiert, hinterfragt. Das ist auch Bestandteil unserer Moderne.“
Das Feature entstand im Rahmen des Abschlussprojektes des Volontariatsjahrgangs 2017/2018 des Hessischen Rundfunks und wurde am 11.08.2018 auf hr-iNFO erstgesendet.