Erst Russlands Einmarsch in die Ukraine, dann Deutschlands große Umkehr in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Knapp ein Jahr ist es her, da verkündet Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende für die Bundeswehr: eine Bilanz.
November 2022, Generaldebatte zum Bundeshaushalt. Oppositionsführer Friedrich Merz ist in Rage. Was ihn so in Rage bringt, sind die Finanzplanungen für das Verteidigungsministerium in 2023.
Deutschland verfehlt Zielmarke beim Wehr-Etat
Zwar bleibt der Wehr-Etat mit 50,1 Milliarden Euro stabil, und zusätzlich dürfen bereits 8,4 Mrd. Euro des Sondervermögens von 100 Mrd. Euro ausgegeben werden. Doch diese 59 Mrd. Euro entsprechen nur 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Bis zur eigentlichen Zielmarke fehlen gut 19 Mrd. Euro – rechnet das Institut der Deutschen Wirtschaft vor.
Trotzdem sei der Verteidigungshaushalt auf dem richtigen Weg, sagen Experten wie Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Alle Waffensysteme müssen verbessert werden, Lücken müssen gefüllt werden, Personal muss aufgestockt werden. Und das ist eben ein Projekt nicht nur für die eine Legislaturperiode, sondern eben für Jahre“, so Kaim.
Zumindest in 2024 und 2025 kann die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels dank des Sondervermögens gelingen. Doch schon in drei Jahren kann es wieder schwieriger werden. Auch weil mit dem Geld wegen der steigenden Preise weniger gekauft werden kann.
Staaten geben mehr für Rüstungsgüter aus
„Die Frage wird sein das ist ab dem Jahr 2027. Und dann müsste der Wehretat erhöht werden“, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. „Und natürlich sind das Diskussionen, weil, wenn sie dort mehr Geld investieren, fehlt es an anderer Stelle. Aber ich versuche auch, den Menschen immer klarzumachen, dass die äußere Sicherheit ja die Basis für alles ist.“
Nicht erst seit der Zeitenwende zeigen die Rüstungshersteller auch auf zivilen Messen wie zum Beispiel der Internationalen Luftfahrtausstellung in Berlin wieder mehr von dem, was sie im Angebot haben. Denn: Seit fünf Jahren steigen die Verkaufszahlen für Waffen und Rüstungsgüter an. Zuletzt haben die Staaten mit 2 Billionen US-Dollar so viel Geld für Rüstung ausgegeben wie noch nie – ein Plus von 6 Prozent zum Vorjahr.
Doch gerade in Deutschland war es lange zu wenig Ausrüstung – der Bundeswehr fehlen Panzer, Hubschrauber und Schiffe. Den Soldaten fehlen Nachtsichtgeräte und Schutzwesten – und vor allem: die vorhandene Munition reicht wenn es hochkommt gerade mal für zwei Tage – Tendenz abnehmend: auch wegen der Abgabe von Ausrüstung an die Ukraine.
Strack-Zimmermann: „Waren nicht Premium-Kunde für Wehrindustrie“
„Naja, uns muss klar sein: wir waren für die Wehrindustrie ja nicht der Premium-Kunde“, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Wenn die eigene Armee wenig bestellt, dann fährt natürlich auch eine Industrie, auch wenn sie international tätig ist und verkauft, natürlich auch ihr Potenzial runter. Und die Industrie fährt das jetzt hoch. Das ist völlig klar, bei der Bedarf natürlich groß ist.“
Die Sondervermögen-Wunschliste ist lang – ganz oben stehen der neue F35-Kampfjet, der Transporthubschrauber Chinook CH 47 und neue Korvetten und andere Schiffe. Doch bestellt und geliefert wurde bislang nichts. Und das liegt nicht nur am Abbau der Produktion hierzulande oder Chinas Monopol auf wichtige Rohstoffe, so die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie.
Vorschriften und Normen behindern Nachrüstung
Große Hindernisse sind die langsame Haushalts- und Bestellpolitik – aber auch die vielen hemmenden Vorschriften und Normen, sagt Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer vom Bundesverband der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV).
„Das berühmteste ist, das eben die Arbeitsstättenverordnung im Innenraum eines Panzers gelten muss. Das heißt Arbeitsplatzbedingungen, wie Sie auch unter anderem für schwangere Frauen bei einer achtstündigen Büroarbeit gelten müssen, müssen auch im Panzer anwendbar sein. Und so gibt es viele Beispiele auch für Schiffe und für andere Geräte. Und das sind halt Standards, die andere Streitkräfte so nicht allgemein zu eigen machen würden“, sagt Atzpodien.
Eine Vereinfachung der Bestellpolitik ist Verteidigungsministerin Lambrecht bisher schuldig geblieben – und auch ein Munitionsgipfel im Kanzleramt hat keinen Fortschritt gebracht.
Personalgewinnung in der Shopping Mall
Fortschritt bei der Personalgewinnung der Bundeswehr gibt es hingegen schon – zum Beispiel gab es ihn zeitweise im Centro in Oberhausen. Unter den typischen Länden von Europas größtem Einkaufszentrum fand sich im Frühsommer 2022 auch ein ganz besonderer: die Bundeswehr machte mit ihrer Berufsinformation Station. Die Mission von Oberstleutnant Helmar Koch und seinen Kameraden: Die Bundeswehr als Arbeitgeber vorstellen und möglichst viele Leute ansprechen.
„Unter den Wochen hat es sich gezeigt, dass ab spätestens donnerstags wir das Personal erhöhen mussten, um tatsächlich dem Beratungsbedarf, der weit angestiegen ist, nachkommen zu können.“, sagt Koch. „Aber es geht hier nicht nur um die Quantitäten, es geht auch um die Qualität von Bewerbern. Wir haben hier tatsächlich auch sehr, sehr hochwertiges Bewerber erhalten, Akademiker mit Abschlüssen, aber auch Fachkräfte“
Und die braucht die Bundeswehr dringend für die Abkehr von den Auslandseinsätzen hin zum neuen Ziel der Bündnis- und Landesverteidigung. Nach der Aussetzung der Wehrpflicht ging die Zahl der Berufssoldaten zunächst deutlich zurück und sie steigt nur langsam wieder an.
Bundeswehr braucht dringend Personal
Insgesamt leisten heute rund 183.000 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst bei der Bundeswehr. Zusammen mit den zivilen Beschäftigten sind es insgesamt 265.000 Mitarbeitende.
Keine Wehrpflicht, weniger Soldaten – das hieß auch weniger Bewerbungen. Gerade deshalb wirbt die Bundeswehr nun verstärkt in der Öffentlichkeit. Und auch die stärkere Sichtbarkeit der Truppe zum Beispiel an Wochenenden in den Zügen der Bahn, die sie mit Uniform gratis nutzen können, helfe bei der Personalgewinnung, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
„Sie brauchen Techies. Sie brauchen junge Männer und Frauen, die wirklich technischen Sachverstand haben, weil das Gerät, was die Bundeswehr benutzt, ist heute wirklich, äh, ja, Hightech. Das heißt, sie müssen auch Menschen erreichen, die möglicherweise sonst auf dem freien Markt uns weggenommen werden. Dann müssen es Menschen sein, die auch wehrbereit sind“, so Strack-Zimmermann. Beim Personal ist die Truppe also auf einem guten Weg.
Fazit: Es braucht mehr Geld und mehr Konfliktfähigkeit
Die Bilanz: 1 Jahr Zeitenwende, das heißt auch 1 Jahr erste Schritte in Richtung größere „Konfliktfähigkeit“. Doch damit Deutschland auch wirklich „verteidigungsfähig“ wird, braucht es mehr Geld: für genug Material und für die richtigen Leute.
Der Beitrag zum Thema lief am 11.01.2023 in „mex – das Marktmagazin“ im hr-fernsehen. Der Ausschnitt zu den Arbeitsstätten-Vorgaben für den Panzer hat es übrigens sogar in die „heute-show“ vom ZDF geschafft.